Donnerstag, 14. Mai 2009

seitenwechsel #84

Diese Saison, noch dazu mit englischen Wochen, ist Stress pur. Denn nur eins ist in dieser Spielzeit konstant: Der wöchentliche Seitenwechsel: Zum 84. Mal spielen wir schicke Kurzpässe und lange Flanken hin und her. In dieser Woche befasst sich Joachim mit einem lange vernachlässigten Thema: dem Jubel. Martin hält dagegen und berichtet, warum er und Borussia einen Kollegen obdachlos gemacht haben, nachzulesen bei Seitenwahl.

Lieber Martin,

ich nutze die knappe Zeit zwischen Schalke und Cottbus, um mit Dir über ein Thema zu reden, das hier normalerweise entschieden zu kurz kommt: das Jubeln.

Den Begriff setze ich als bekannt voraus, zumindest seit Sonntag, als selbst hier beim VfLog ein veritabler Jubelschrei online erschien (nun, vielleicht kam der auch von Maik). Was der Begriff beinhaltet, hängt vom Akteur ab. Übliche Praxis - und daher eigentlich kaum erwähnenswert - ist der Jubel des Torschützen, wobei ich mich im folgenden nicht auf Herrn Colautti beziehe, sondern den Durchschnittskicker ins Gedächtnis rufe: Tor schießen, die voreilig gratulierenden Mitspieler auf Distanz halten, Gott danken, das Trikot an der Stelle küssen, wo man das Vereinslogo vermutet, den getapten Ringfingerküssen, das Baby in den Armen wiegen, den dreifachen Rittberger springen (rückwärts-einwärts), die Eckfahne umtreten, zur Ersatzbank rennen, den Azubi des Trainers umarmen, erst dann die Mannschaftskameraden herbeiwinken, sich von ihnen küssen und die Schuhe putzen lassen, Jesus und dem Heiligen Geist danken, und dann laaangsam aufs Spielfeld zurücktraben - das alles in 30 Sekunden, sonst droht Zeitspiel.

Natürlich ist das alles Show (der gute Mann ist Agnostiker, er weiß weder, wo das Vereinslogo auf dem Trikot ist noch für welchen Verein er gerade spielt, der Ringfinger ist nicht wegen des Eherings getapt, sondern weil er ihn sich beim Nasenbohren während des Abschlußbesprechung gebrochen hat, Kinder hat er nicht, den Azubi vom Trainer umarmt er, weil der den Zettel mit der Mannschaftsaufstellung mit in die Waschmaschine gesteckt hat, weswegen der Trainer bei besagter Abschlußbesprechung wirr irgendwelche Zahlen auf die Tafel gemalt hat, und die Mitspieler freuen sich auch nicht wirklich, sondern radebrechen auf Deutsch mit serbokroatischem und rumänischem Akzent, daß sie den Torschützen durch den Fleischwolf drehen, wenn er nochmal den freien Nebenmann übersieht und dann noch fast über den Ball tritt). Nun ja, das Publikum möchte halt unterhalten werden. Immerhin sind der Rittberger und die Technik beim Eckfahnensprung authentisch, war der Betreffende doch Akrobat auf dem Jahrmarkt, bevor sein Schwager ihn zwei Stunden vor Transferschluß noch im unteren Bundesligadrittel untergebracht hat.

Ebenfalls Show ist das Nicht-Jubeln. Es wird von knorrigen Fußballehrern beherrscht, die stets den Eindruck vermitteln, dieser ganze Rummel ginge sie gar nichts an, schließlich arbeiten sie nur in diesem Scheißjob, damit die Handvoll Enkel, die sie inzwischen haben, nicht später an der Tanke Bier klauen müssen, von Schlimmerem nicht zu reden. Authentisch dagegen ist wiederum der versteckte Jubler im Nicht-Jubeln, so gesehen bei Hans Meyer nachdem 1:0. Dumm, daß heutzutage gleich alles auf Zelluloid gebannt wird, andererseits: Wo wären wir ohne solche Videos? (Tear down this gate, oder wie war das noch?)

Dann haben wir die Jubler der Fans. Hierüber ließen sich Bücher füllen. Ich belasse es bei der Bemerkung, daß es etwas schizophren ist, daß im Fußball angeblich keine Schwulen herumlaufen (dürfen), nach jedem Tor aber Zigtausend Männer ihren - häufig unbekannten - Nachbarn herzen und drücken. Ich erinnere mich noch, als ich mich vor vielen Jahrzehnten beim Handball am Ende eines ungemein spannenden Spiels, in dem in der Schlußsekunde das entscheidende Tor fiel, meinem unbekanten Sitznachbarn um den Hals warf, oder umgekehrt, wer will es sagen und wissen. Wir tanzten, schrien und drückten uns eine Minute wie die Bekloppten, dann hielten wir inne, schauten uns etwas betreten an und sprachen danach nie wieder miteinander. Schön war das, aber es ist auch gut, daß sich so etwas auf Ausnahmen begrenzt.

Das Beste ist jedoch nicht das Jubeln, sondern die Freude am Tag danach. Du gehst ins Büro, Deine Feinde schweigen, Deine Freunde gratulieren, halten Dich von der Arbeit ab und finden die Zeit reif, längst vergessene Schulden einzutreiben, doch der absolute Höhepunkt ist, wenn der Chef erscheint. So erging es mir diesen Montag. Mein Chef sah mich von weitem, lächelte (sonst ein Gefahrenzeichen der höchsten Kategorie), schaute mich mit dem Blick eines Vaters an, dessen mißratener Sohn wider Erwarten die entscheidende Prüfung bestanden hat, um dann durch den Gang zu brüllen: "Gut gemacht!" In etwa so muß sich Roberto Colautti in der 90. Minute gefühlt haben. (Ich verschweige hier, daß mein Chef Dortmund-Fan ist und ich sofort wieder verschissen hatte, als ich ihm im Überschwang erklärte, jetzt putzen wir am letzten Spieltag noch die Lüdenscheider mit 12:0.)

Ich schreibe diese Zeilen bewußt vor dem Cottbus-Spiel, lieber Martin, da ich nicht das Risiko eingehen möchte, am Donnerstag über das Jubeln philosophieren zu müssen. Entweder bin ich dann frustriert oder ekstatisch, beides ist nicht gut fürs Briefeschreiben. Das überlasse ich dann einem abgeklärten Pessimisten wie Dir. In diesem Sinne grüßt Dich aus luftiger Höhe (Platz 15)

Dein Joachim

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Lieber Joachim,

das ist das Beste, was ich bisher in den Seitenwechseln lesen durfte.
Danke :-)

Jan