Donnerstag, 4. August 2005

die ästhetik der grätsche

Gestern bei Torwort wimmelte es nur so von Stars und alten Helden. Uwe Kamps (der meinen kurzfristig verhinderten Kollegen Maik bravourös vertrat), Stadionsprecher Opdenhövel (der seinen vielleicht größten Lacher auf Kosten von Jeff Strasser erzielte) und Hans Meyer (der auf der Bühne nicht weniger grantelte als im Fernsehen), sie alle waren da und es war gut. Mein Highlight aber war Thomas Broich. Er wagte es, der Versuchung, den Reigen der komischen Texte fortzusetzen, zu widerstehen und las aus einem Aufsatz von César Luis Menotti, dem großen argentinischen Fußballtrainer. Er handelte vom 'linken' und vom 'rechten' Fußball:
"Beim rechten Fußball wird viel von Opfern und Arbeit geredet. Er wirft den Blick nur auf das Resultat, er degradiert die Spieler zu Söldnern des Punktegewinns. Der linke Fußball feiert die Intelligenz, er fördert Phantasie, er möchte ein Fest feiern."
Fußball soll nach Menotti kein Geschäft sein, sondern eine Lebensform, Kunst, denn der Fußball, so Menotti, "hat diesselbe Funktion in der Gesellschaft wie andere Ausdrucksformen der Kunst: ein guter Film, ein gutes Lied, ein gutes Bild."

Es war mutig, auf einer Unterhaltungsveranstaltung diese potentielle Überforderung des Publikums zu wagen; und das Publikum dankte es Broich. Schließlich ist es mehr als sympathisch zu sehen, dass es auch heute in einer Bundesligamannschaft Spieler gibt, die sich derart über ihren Sport und ihr Tun Gedanken machen. So schlossen die spannendsten Gespräche gestern abend auch an die Überlegungen von Menotti an: Warum eigentlich heißt es nach einem verlorenen Spiel immer, die Aggressivität habe gefehlt, es sei zu wenig gekämpft worden, die Mannschaft habe zu wenig Biss? Die Wortwahl verrät die Grundmetapher: Fußball als Kampf. Menotti selbst war nicht gegen Einsatz, aber die Priorität ist nicht allein der Sieg: "Wenn es sein muss, soll auf dem Spielfeld auch Blut fließen. Aber ich will, dass Intelligenz und Kreativität siegen, nicht Destruktivität und Stumpfsinn." Warum klingt es von den Rängen statt "Wir woll'n Euch kämpfen sehen!" nicht öfter "Wir woll'n Euch spielen sehen!"?

Da kam der Einwand des Alemannia Aachen-Fan und Torwort-Gründers Sascha Theisen, in Aachen sei Kampf Spiel, wünschen die Fans Grätsche statt Hackentrick, nicht weil sie ergebnisorientierten 'rechten' Fußball lieben, sondern weil die Grätsche für diesen Verein, seine Geschichte ehrlicher, ja: ästhetischer sei. Die Ästhetik der Grätsche liegt wohl in der Authentizität eines Jeff Strasser, der so gar nichts Brasilianisches hat, aber dessen Schweißperlen, dessen anfeuerndes Armrudern ehrlicher sind als die genialischen Gesten mancher Star-Diva bei Dortmund oder Bayern. Über einen unbeholfenen Strasserschen Pass nach vorne kann man dann witzeln wie Opdenhövel, oder man feiert ihn als den mutigen Versuch, Hoffnung und Risikobereitschaft maschinistischem Sicherheitsdenken ('If in doubt, kick it out!') entgegen zu stellen. In dieser Sicht ist die Ästhetik der Strasserschen Grätsche und die Kreativität eines Thomas Broich gleichermaßen Ausdruck für Authentizität. Vielleicht ist es das, was Menotti heute als Kennzeichen von 'linkem' Fußball ausmachen würde, gegenüber den rechten "Söldnern des Punktegewinns".

Über dieses Thema wird man noch lange diskutieren können, und der Fan eines Profivereins wird dabei leicht in schizophrene Positionen und Paradoxe verwickelt. Da ist es gut, dass über Fußball nur so lange diskutiert wird, wie der Ball selbst nicht spricht. Morgen ist es endlich wieder soweit. Jungs, gegen Bayern: Ich will Euch spielen sehen!

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Letzte Woche Mittwoch fand in der Sportsbar im Gladbacher Borussia-Park die Fußball-Lesung 'Torwort' statt. Ich war dabei! Das Konzept dieser Lesung sind 2x45 Minuten, in jeder Halbzeit lesen je 3 Menschen eigene oder andere Geschichten rund um den Ball.

In Gladbach machte Stadionsprecher und TV-Quizmaster Mattias Opdenhövel den Anfang. Er hatte selber einen Text zum Thema Schiedsrichter geschrieben und trug ihn in der gewohnt schnoddrigen Art vor. Uns liefen die Lachtränen nur so übers Gesicht, als er über Dick Advocaats Ausspruch zur Sitzheizung auf der Ersatzbank als "Rosettentoaster" sprach und über das noch nicht von der Fifa geregelte Händeschütteln vor Beginn des Spiels. Er schlägt vor, dass die Reihenfolge fest geregelt sein müsste, damit das Chaos ein Ende hat. So könnte z.B. der Linienrichter Haupttribüne dem Spielführer Gastmannschaft zuerst die Hand geben, danach der Linienrichter Gegentribüne dem Heimspielführer......Sehr lustig auch sein eigenes Erlebnis mit einem vierten Offiziellen, der zu ihm sagte: "Setzen sie sich sofort wieder hin, sonst sind sie der erste Stadionsprecher der eine Verwarnung erhält, Herr Pflaume!"

Als zweiter las ein Erdkundelehrer namens Sascha Theisen, seines Zeichens Mitgründer der Fußball-Lesung und Redakteur beim footage-Magazin. Er las als Fan der Alemannia über die Fähigkeit der Borussen alles zum Mythos zu stilisieren. Ob positiv oder negativ, alles bekommt den Zusatz „Mythos“ und Günther Netzer ist der godfather des Mythos.

Dritter im Bunde war Thomas Broich, der vor uns die Sportsbar betrat und auf die Frage des älteren Herrn an der Eingangstür nach seiner Eintrittskarte verlegen antwortete.“ Ehm, ich soll hier was vorlesen.“ Zuerst erklärte er, dass er unglaublich nervös sei und vor einem Fußballspiel vor 50.000 Zuschauern nicht so schweißnasse Hände hätte wie jetzt. Er las etwas von Cesar Luis Menotti (anschließend gab es Dank an Harald Irnberger, der den Text zur Verfügung stellte) zum Thema kapitalistischer, rechter Fußball („Erfolg um jeden Preis“) versus linker freier Fußball, bei dem das Spiel und nicht der Erfolg im Vordergrund steht. "Beim rechten Fußball wird viel von Opfern und Arbeit geredet. Er wirft den Blick nur auf das Resultat, er degradiert die Spieler zu Söldnern des Punktegewinns. Der linke Fußball feiert die Intelligenz, er fördert Phantasie, er möchte ein Fest feiern." Anschließend gab es eine Diskussion zum Thema, doch da das Thema viel zu komplex ist, konnten einige Aspekte nur angerissen werden.

Nach einer kurzen Pause sollten die Macher des vflog Martin Zierold (VfL Borussia MG) und Maik Gizinski (VfL Osnabrück) vorlesen, doch da Maik kurzfristig eine andere Verpflichtung hatte sprang Borussias Torwart-Legende Uwe Kamps (um die aufkommende Frage zu beantworten: Ja, der kann wirklich lesen!) ein. Die beiden lasen einen sehr kurzweiligen Dialog, der beim Spiel HSV-Borussia in der letzen Saison zwischen Martin in der Fankurve und Maik auf der Pressetribüne stattfand. Sehr spannend die 57. Minute: „Du, die Jungs von der BILD geben vor mir gerade schon die Noten für morgen durch. Strasser kriegt eine vier! Der war doch gar nicht so schlecht...“.
Viel besser aber der Dialog in der 68. Spielminute:
BILD-Redakteur 1 (am Telefon): Was, Ihr braucht noch jemand aus der Abwehr für die Elf des Tages? ... Also, da seh ich hier echt keinen. (zu Kollegen:) Elf des Tages, Abwehr? Irgendjemand von uns? Die Kollegen suchen händeringend.
BILD-Redakteur 2: Van Buyten hatten wir ne drei. Können wir ja auf zwei raufgehen.
BILD-Redakteur 1 (wieder am Telefon): Ok, van Buyten kriegt ne zwei. Ab in die Elf mit dem. So schlecht isser auch gar nicht.

Insgesamt ein unterhaltsamer Text, dem noch ein kürzerer Text über Manolo, den legendären Trommler der Borussen-Fankurve, folgte.

Last but not least war Hans Meyer an der Reihe. Er las einen aus dem englischen übersetzten Text über Liverpools Erfolgstrainer Bill Shankley. Bekanntestes Zitat von ihm: "Manche Leute halten Fußball für eine Sache von Leben und Tod. Ich bin von dieser Einstellung sehr enttäuscht. Ich kann Ihnen versichern, es ist sehr viel wichtiger als das!" Sehr lustig, doch auch Meyer sagte, dass sich erst wenn die Geschichte geschrieben ist herausstellt, ob etwas Kult wird, oder eben auch nicht. Nach seinem Text gab es noch ein paar Worte von ihm zu Broichs Thema. Heiko wäre sehr erfreut, denn Meyer sagte wörtlich: "Wieso rufen die Fans immer: Wir wollen euch kämpfen sehen, das ist doch totaler Quatsch. Schreit lieber: Wir wollen euch spielen sehen. Das trifft den Kern der Sache." (Ich rufe das im übrigen schon immer!).

Fazit des Abends, es war vor allem sehr kurzweilig und ich würde sofort wieder hingehen. Die Zuschauer waren durchweg alle sehr angetan und würden wohl alle wieder hingehen, das war jedenfalls mein Eindruck. Die Seite www.vflog.de ist sehr lesenswert und hat mit mir einen neuen Stammleser gefunden. Thomas Broich sieht besser aus, als ich dachte und Hans Meyer ist viel größer, als ich dachte. Zwischendurch gab es auch mal was zu gewinnen, nerviger war aber, dass auch Versteigerungen zugunsten einer Organisation für Kinder aus MG gemacht wurden. So etwas macht man IMO besser in größerem Kreis, ich war darauf jedenfalls überhaupt nicht eingestellt. Falls also die Torwort-Tournee in eure Stadt kommt, geht hin, ihr werdet es sicher nicht bereuen.