Donnerstag, 24. September 2009

seitenwechsel #92

Freunde der VfLiebe! Zum 91. Mal verständigen wir uns mit den lieben Kollegen von Seitenwahl über die Lage der Nation, d.h. der VfLs. Joachim ist in dieser Woche in einem elegischen Rauschzustand, der auch durch Pokalniederlagen nicht gestört wird. Und wie das so ist: Ist ein Partner besonders ruhig, treibt das den anderen erst recht in den Wahnsinn. Martin jedenfalls ist schon wieder urlaubsreif, wie seinen Zeilen bei Seitenwahl anzumerken ist.

Lieber Martin,

Maik sagte mir, daß Du gut aus der Kur zurückgekehrt seist und mir diese Woche einen Brief schreiben wollest. Nun sitze ich hier und warte, doch Du schreibst nicht. Ist Dir der Pokal auf den Magen geschlagen? Welch kurioser Zufall, daß unsere beiden VfLs jeweils erleben mußten, was in der Nachspielzeit noch passieren kann. Immerhin hat ein VfL noch den Kopf aus der Schlinge gezogen, was für beide zusammengenommen exakt dem mathematischen Erwartungswert entspricht, auch wenn unser gefühlter Fan-Erwartungswert ein anderer war (nämlich glatt null).

Eine glatte null gebe ich als Note auch dem Verfasser meines ansonsten so geliebten ARD-Videotexts. Bei Borussia sah er eine „desolate Leistung“, und auch der HSV habe sich „bis auf die Knochen blamiert“. Ich fürchte, es wäre eine wissenschaftliche Sensation, wenn man die Hirnströme dieser Person messen lassen würde. Im Pokal bei einem Zweitliga-Absteiger zu verlieren ist peinlich, aber nicht der Untergang der Welt und durchaus nicht unüblich. Borussia sah ich zudem keineswegs desolat. Im Gegenteil, ich bin mit großer Vorfreude zum Spiel gereist und habe mich im Stadion 90 Minuten lang wunderbar amüsiert. Ich habe aber auch vorab nicht erwartet, daß wir die Duisburger einfach mal so weghauen, dafür bin ich zu lange dabei. Ich erwartete einen Pokalfight, und den bekam ich – und das war ganz wunderbar und spannend. Je länger das Spiel dauerte, desto mehr Beobachter selbst auf der Pressetribüne standen kurz vor dem Herzinfarkt, und mancher konnte zwischendurch gar nicht mehr hinschauen. Kurzum: Eine wunderbare Pokalnacht. Bis auf die letzte Minute.

Was mich seitdem am meisten stört, Martin, alter Leidensgenosse, ist die ebenso verbreitete wie schwachsinnige Angewohnheit, das Spiel vom Ergebnis her zu analysieren. Hätten wir 1:0 gewonnen, wäre überall von einem wenig glanzvollen, doch verdienten Sieg die Rede. So aber ist alles nur schlecht. Ich will das gar nicht weiter kommentieren, denn das bringt nichts, ich meine hier nur: Schmeißt einfach mal Teile des Publikums raus. Ich möchte sie an dieser Stelle als „Bochumer“ bezeichnen, denn Dir wird nicht entgangen sein, daß die Bochumer Fans jüngst den Mann abgesägt haben, der ihren mausgrauen Verein jahrelang in der ersten Liga gehalten hat und dem sie daher jeden Morgen kollektiv die Zehen küssen müßten. Stattdessen ekeln sie ihn raus. Bochumer Fans braucht kein Mensch, und deshalb sage ich nach unserer Pokalniederlage: Wer sich bei uns wie ein Bochumer verhalten will, der soll nach Bochum gehen. Und tschüß.

Versteh mich nicht falsch, natürlich hat mich der Duisburger Siegtreffer geärgert. Sehr sogar. Die Duisburger wechseln präzise zur 90. Minute aus, daran siehst Du, daß sie gar kein Tor mehr schießen wollten. Dann laufen sofort schon die letzten Sekunden der einzigen Nachspielminute, und Du denkst Dir, da muß nur noch einer den Fuß hinhalten und den Ball weghauen, von mir aus auch mit dem Gegenspieler dazu, doch die stehen alle nur rum, die eine Hälfte vorne, die andere hinten, dazwischen nix, alle denken: „Wann pfeift er denn?“, und Du meinst, sie haben das Hoffenheim-Spiel schon wieder komplett vergessen. Hinterher sagen sie dann, sie wollten noch in der regulären Spielzeit gewinnen. Nun, wenn sie noch nicht mal den Spielmodus im Pokal kennen, dann verlieren sie eben zurecht.

Und trotzdem: Ich bin nicht der Trainer, ich bin Fan. Ich muß mich nicht fragen, wer warum das Tor nicht trifft, wer ab Mitte der zweiten Halbzeit wo welche Löcher nicht mehr stopft und ob sie defensiv gegen Spielende alle malle werden. Ich möchte spannend unterhalten werden. Und da sagt der Inselaffe treffend: You cannot have the cake and eat it. Wenn Du vorher weißt, wie es ausgeht, ist es kein Fußball, und ich habe lieber ein ausgeglichenes Spiel mit unsicherem Ausgang, als ein langweiliges 3:0. Hopp oder topp, ohne Sicherheitsnetz, das ist so ganz anders als im normalen Alltag und daher besonders schön – wenn es um so unwichtige Dinge wie Fußball geht, versteht sich.

Deshalb liebe ich den Pokal, und deshalb werde ich jedes Jahr ganz elegisch, wenn ich nach obligatorischen Zweitrundenniederlagen nachts auf der Autobahn nach Hause fahre. Ich fahre dann langsam, gegen meiner sonstigen Gewohnheit, und höre abgedrehten DJs im Radio zu, wie sie mir erklären, wer vor 40 Jahren bei Creedence Clearwater Revival die dritte Trommel von links gespielt und nun sein fünftes Comeback-Album herausgebracht hat. Dann höre ich Musik, die ich sonst im Jahr nie höre (und ich frage mich, warum eigentlich nicht), und philosophiere über das Leben. Nie ist man so mit sich allein wie nach Pokalniederlagen nachts auf der Autobahn, und dann liebe ich den Pokal nur um so mehr.

Da ich weiß, daß es meistens so kommt, nehme ich mir zusätzlich noch ein paar CDs mit, die ich sonst auch nie höre. Diese Woche war Anne Clark dran, und als es dunkel war, sang sie:

Night descending
In phosphorous little drops
Into my eyes
Sharper than the moment
My stomach tightens
As in accelerating cars
Or at the certainty of sex
And doesn’t pass
This is where the day has led me
This is as far as I have come


Ich habe dann das Gefühl, daß solche Lieder nur geschrieben wurden, damit ich sie hier und jetzt höre, und ich höre auf Texte, auf die ich sonst nie achte:

Now that all is stilled and silenced
That the rushing roaring daylight
Has lost itself –
Its hysteria
In the all-amassing light –
I too gently lose myself
Beyond the open window
Where a journey unfolds
Into the city of rain.


Und dann freue ich mich bereits auf das nächste Jahr, wenn wieder Pokal ist, und ich lasse einfach auf mich zukommen, was passiert. Wunderbar!

Heute mit elegischem Gruß,
Dein Joachim

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