Freitag, 30. Oktober 2009

seitenwechsel #94,5

Unser lieber kleiner Seitenwechsel nähert sich der 100, da passiert etwas, das noch nie dagewesen ist: Stell Dir vor Joachim schreibt, und Martin antwortet nicht. Nein, dies ist nicht der erste große Zwist einer wunderbaren Liebe, es ist vielmehr eine Verkettung unglücklicher Umstände. Hoffen wir, dass dies der letzte unbeantwortete Seitenwechsel für mindestens die nächsten 100 Briefe bleiben wird.

Lieber Martin,

es gab einmal eine gute alte Zeit, damals, als jeder wußte, daß nach dem Wort „Borussia“ nur das Wort „Mönchengladbach“ folgen konnte, Sozialisten sich in Deutschland ausschließlich aus der kleinen Gruppe teilzeitbeschäftigter Sozialkundelehrer rekrutierten und Haarausfall etwas war, daß man im (exklusiv öffentlich-rechtlichen) Werbefernsehen erlebte, nicht aber auf dem eigenen Kopf. In dieser guten alten Zeit beurteilte man das sportliche Abschneiden seiner Fußballmannschaft erst nach dem zehnten Spieltag. Inzwischen ist vieles anders. Ich bin noch nicht alt genug, um zahnlos zu nuscheln „Früher war alles besser!“, aber die Tradition der „Nach-Spieltag-zehn-Analyse“ möchte ich gerne fortleben lassen.

Nun, der zehnte Spieltag ist seit dem vergangenen Wochenende vorbei: Wie stellt sich also die Lage dar? Bleiben wir zunächst bei den Fakten. Platz fünfzehn ist identisch mit dem Abschlußergebnis der Vorsaison. Nullkommaacht Punkte pro Spiel reichen üblicherweise nicht zum Klassenerhalt. Die Torbilanz ist deutlich negativ. Der Trend der letzten Spiele weist abwärts, sieht man von der letzten Viertelstunde gegen Köln ab (was für einen Trend keinen Unterschied macht), und auf dem Papier folgen nun bis Ende der Rückrunde eher die schweren Gegner. Dennoch ist die Stimmung in Verein und Umfeld vergleichsweise ruhig, und – größtes Mirakel – der Trainer ist nach die vor derselbe wie zu Beginn der Spielzeit.

Ich kann somit feststellen, um zu einer Bewertung zu kommen, daß die Lage ernst und unbefriedigend, jedoch nicht katastrophal und keineswegs aussichtslos ist. Das ist, klar gesagt, verdammt wenig. Wir sollten uns jedoch hüten, aus der Illusion zu Saisonbeginn, die Mannschaft könne tatsächlich vielleicht einer sorgenfreien Spielzeit entgegensehen, nun die beleidigte Gegenthese zu entwickeln, daß die Graupen allemal dieselben sind wie eh und je, nur daß Kahê jetzt Bobadilla heißt, Insua Arango und Bongartz Frontzeck. Tatsächlich ist die fußballerische Qualität der Mannschaft gestiegen. Ob sie „genug“ gestiegen ist, bezogen auf die Transferausgaben und die Ansprüche, mag jeder für sich selbst beurteilen, denn „genug“ ist ein reichlich schwammiger Begriff. Für mich ist es nicht „genug“. Es ist aber auch nicht zu wenig „genug“, um nun anders handeln zu wollen als die Vereinsspitze (und in der Tat hat Michael Frontzeck gegen Köln genau die Elf aufgeboten, die ich auch hätte spielen lassen, ich fühle mich also am unzureichenden Erfolg entsprechend beteiligt).

Nun interessiert es kein Schwein, was ich bezüglich Borussia denke, weswegen außer den Schülern der Kurse „Journalismus I“ und „Satire nach Feierabend“ an der Volkshochschule Ennepetal sowie 1,3 Milliarden Chinesen, die online Deutsch lernen, an dieser Stelle des Satzes kein Leser mehr anwesend ist. Dennoch – und hier könntest Du, lieber Martin, jetzt irgendwas Blinkendes oder ästhetisch Anregendes einblenden, damit die Aufmerksamkeit wieder sprunghaft steigt – bin ich bei Licht betrachtet verdammt stolz, daß viele Anhänger des Vereins inzwischen zu begreifen scheinen, daß wir eben nicht der FC Chelsea oder Real Madrid sind. Selbst ein kurzfristig zweifellos machbarer Erfolg wie der des FSV Mainz 05 erscheint dubios, wenn entweder noch in der Vorrunde, erst der Rückrunde oder vielleicht gar erst nächste Spielzeit der Leistungsabfall unvermeidlich erscheint. Entscheidend ist die Substanz, und da stimme ich Max Eberl zu, daß die letzten beiden Jahre jeweils das zentrale sportliche Ziel erreicht wurde. Natürlich kann es da nicht stoppen, aber es gibt auch keinen Anlaß, nun wieder alles infrage zu stellen.

Und somit, lieber Martin, beende ich meine kleine Betrachtung nach dem zehnten Spieltag mit dem Versprechen, erst wieder zur Winterpause zum leidigen Thema „Zwischenfazit“ zurückzukommen. Lassen wir bis dahin den Fußball sprechen! Gratulieren wir somit dem VfL Osnabrück zum erneuten Pokalsieg – gerade auch gegen Dortmund. Ärgern wir uns gemeinsam über das Gegentor zum 1:2 gegen Argentinien bei der U17-WM, der mit Abstand idiotischste Gegentreffer seit der (noch nicht allzu lange zurückliegenden) Geburt des neuen Verteidigungsministers. Fressen wir uns voll mit Hamburgern, um dann am späten Samstagnachmittag glücklich zu platzen. Und, last but not least, machen wir es wie die Kinder auf dem Spielplatz, denn das – und nicht langatmige Erklärungen – ist das angemessene Niveau des Fußballfans: Sagen wir das nächste Mal, wenn ein Kollege den Kopf zur Tür hereinsteckt und fragt: „Diese Borussia da auf Deinem Wimpel, aus welcher Stadt ist die eigentlich?“, einfach nur „Stirb dumm!“, werfen ihm den halb aufgegessenen Geißbockdöner von letzter Woche hinterher und gröhlen die Elf vom Niederrhein, egal, ob nebenan der neue chinesische Großinvestor gerade in Verkaufsverhandlungen mit der Geschäftsleitung ist – denn das ist alles, was wir haben und die anderen nicht (und mehr brauchen wir auch nicht): Tradition. Kultur. Stolz. Und Hoffnung – auf bessere Zeiten.

Es grüßt Dich, ein Faß Altbier zum Wohle des Polizeistaats leerend,

Dein Joachim

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