Nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Aber irgendwann ist die Saison dann auch vorbei. Martin ist im Kopf schon fast am letzten Spieltag angekommen und zieht auf Seitenwahl ein Fazit dieser Spielzeit. Aber eigentlich sucht er Lebenshilfe von Joachim -- nachzulesen bei Seitenwahl. Joachim antwortet wie immer abgeklärt auf unserem kleinen Familienblog.
Lieber Martin,
Kaffee und Kamillentee, das ist das ganze Geheimnis. Wovon ich rede? Nun, Du fragtest mich, wie ich den Slalom zwischen den roten Fahnen der Fußballeidenschaft mit allem dazu gehörenden Engagement und den blauen Fahnen der abgeklärten Gelassenheit bewältige. Es gibt eine Zeit für beides, lieber Martin, auch wenn beide Zeiten oftmals sehr nahe beieinander liegen. Im Winter beispielsweise gehe ich oft in die Cafeteria in meinem Büro und bestelle einen Kaffee und einen Kamillentee. Den Kaffee trinke ich, damit ich (kurzzeitig) wach werde, der Kamillentee hält wach, beugt Krankheiten vor und beruhigt.
Anders kann ich nach weit mehr als drei Jahrzehnten des Fan-Seins auch das wöchentliche Auf und Ab meines Vereins nicht mehr ertragen. Es gibt eben während des Spiels den emotionalen Aufruhr mit all seinen liebgewonnenen Ungerechtigkeiten, danach, mit etwas zeitlichem Abstand, die Analyse und das Verzeihen der vielen kleinen Unzulänglichkeiten (und das sind stets viele) der Akteure auf und neben dem Platz. So schaffe ich es, einen Spieler samstags für einen Versager zu halten und Dir am Mittwoch zu erklären, warum er eine echte Verstärkung ist. Kaffee und Kamillentee eben, die Mischung macht's.
Mir hilft in dieser Abgeklärtheit natürlich, daß ich nach all diesen Jahren eine gewisse Ahnung vom Fußball habe (aufgemerkt, liebe Internetverächter: Hier bloggt ein Kompetenzteam.). Das ist durchaus schwierig, denn man kann hunderte von Fußballspielen betrachten, ohne wirklich das Gefühl zu bekommen, man verstünde etwas von diesem Sport. Ein Spiel zu lesen ist nicht einfach, etwas zu prognostizieren noch viel diffiziler. Und doch, es gibt Teilbereiche, bei denen man nach so langer Zeit wirklich sachkundig wird. Vieles hat mit Psychologie zu tun: Körpersprache, Bewegungen, das Umgehen mit den Knackpunkten, die jedes Spiel aufweist. (Übrigens sind dies Erkenntnisse, die auch ansonsten im Leben weiterhelfen. Seit ich etwa in Sitzungen viel mehr auf non-verbale Kommunikation achte, habe ich den meisten Kollegen gegenüber einen beträchtlichen Erkenntnisvorsprung, der sich regelmäßig auszahlt.)
Ein herausragendes Beispiel sind Elfmeter. Ich kann Dir selbstverständlich nicht bei jedem Schützen voraussagen, ob er trifft oder nicht, dafür sind zu viele Faktoren im Spiel. Beispielsweise kann ein Torwart mit Glück auch einen gut geschossenen Strafstoß halten. Ich kann Dir aber bei einem normal verlaufenden Elfmeterschießen im Durchschnitt ein- bis zweimal vorhersagen, daß jemand verschießen wird, und ich habe mich bei diesen Prognosen zu meinem eigenen Erstaunen seit Jahren nicht mehr geirrt. Du siehst das einfach am Gang, an der Art, wie der Schütze jeden Blick aufs Tor vermeidet, wie er hektisch bemüht ist, den Schuß einfach nur hinter sich zu bringen. Dead man walking.
Seit Samstag weiß ich nun, daß das sogar am Radio geht. Ja, am Radio, denn ich war auf Verwandtenbesuch, und alles, was es da gibt, ist ein altes Dampfradio. Mir macht das nichts, ich liebe Radio, denn ich bin aufgewachsen mit den Schlußkonferenzen der Bundesliga, und ich höre sie heute noch gerne (ich kann Dir sogar sagen, wer ein Tor erzielt hat, bevor der Schrei "Tor in ..." beendet ist, denn ich höre am Wort "Tor", wer der Reporter ist, und der Geräuschpegel im Hintergrund verrät, ob es für die Heim- oder die Gastmannschaft gefallen ist). Ich hörte also ruhigen Geistes einem etwas indisponierten Lokalreporter zu, der ausführlich über unser Spiel in Berlin berichtete, als es den Elfmeter gab. Dann sagte der Mann, Arango stehe bereit. Haha, dachte ich, setz mal Deine Brille auf. Ich weiß zwar, daß Arango schon Elfmeter geschossen und auch verwandelt hat, aber das war ein anderer als der, der derzeit im Arango-Trikot herumläuft. Daems schießt Elfmeter, Bradley schießt Elfmeter, aber nicht Arango. Der Reporter blieb aber beharrlich bei seiner Namensnennung, und als er sagte "Arango läuft an", da wurde ich böse. Sehr böse sogar. Ich dachte mir nämlich, der verschießt, und die anschließende Bestätigung dieser unvermeidlichen Tatsache nahm ich schon wieder gelassen zur Kenntnis. So etwas weiß man einfach: Im Januar 2010 läßt man einen Spieler, der derart neben sich steht, einfach keinen Elfmeter schießen, dafür brauche ich keine Trainingseindrücke oder was auch immer zu Rate zu ziehen.
Du siehst, lieber Martin, heute rede ich schon wieder ganz ruhig darüber (der Kamillentee-Part). Schließlich gibt es keine Garantie, daß ein anderer getroffen hätte oder wir nach einem 1:0 wirklich als Sieger vom Platz gegangen wären. So nehmen wir den Punkt als positives Ergebnis mit, aber am Samstag, oh, da hätte ich den Arango an die Wand titschen können, vor allem als ich später in der Sportschau seinen schlafmützigen Nachschuß sah.
In diesem Zusammenhang fällt mir mein aktuelles Lieblingsschimpfwort ein, nach dem Du mich fragtest, lieber Martin. Ich hörte es vor einiger Zeit beim Testspiel in Koblenz, an den Schiedsrichter gerichtet: "Du Eierdieb!" Wie viel origineller wären Sportgerichtsurteile, wenn der Spieler zum Schiri „Sie Eierdieb“ oder „Sie sind heute ja wieder degoutant inkontinent“ sagen würde anstatt „Disch Wixxa mach isch platt“.
Es grüßt Dich ein Schaaf auf der Weide rupfend
Dein Joachim
Donnerstag, 28. Januar 2010
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen