Und wenn die Welt auch morgen untergeht, so würden wir uns doch heute noch ein Briefchen schreiben: Schon 65 Mal haben wir uns mit den lieben Kollegen von Seitenwahl Brand-, Schmäh- oder Liebesbriefe geschrieben. Doch heute mag keine rechte Jubiläumsstimmung aufkommen. Vielmehr schreibt man sich von Krankenbett zu Krankenbett. Martins weinerliches Pamphlet findet sich wie immer bei Seitenwahl. Joachim nimmt alle Sinne und viel Kaffee zusammen, um mit einem therapeutischen Traktat erste Hilfe zu leisten.
Lieber Martin,
ich bedaure zunächst zutiefst, von Deinem erbarmungswürdigen Gesundheitszustand Kenntnis nehmen zu müssen. Immerhin geht es Dir etwas besser, so wirst Du langsam wieder fit für die nächste Krise, die sicher kommen wird. Was mich betrifft, munkelt man zurecht, denn ich füge mich derzeit in ein ähnliches Schicksal. Wie jedes Jahr im Herbst schlägt die Hals-, Nasen-, Ohrenkrise zu, und mein Arzt kommt mit denselben Diagnosen und Therapien, die stets wirken, doch meinem Gefühl nach stets weniger Sinn machen. Das einzig tröstliche ist, daß es mir dabei geht wie meiner lieben Borussia, denn ihr ergeht es genauso: Herbst – Krise – Standardmedikation – kurzzeitige Besserung – nächste Krise. Mir scheint, hier wie da liegt die Lösung in einer grundsätzlichen Änderung des Lebenswandels, nicht mehr länger im vermeintlichen Wegtherapieren stets derselben Malaisen.
Doch ach, das ist leichter gesagt als getan. Zum einen ist es eine Frage des Willens. Beispiel: Ich predige zwar ständig den Genuß von Kamillentee und freue mich diebischst, auch Dich überzeugt zu haben, doch derzeit sitze ich vor meinem Computer mit einem Faß Kaffee, weil ich mich wenigstens kurzzeitig wach fühlen möchte, während ich Dir auf Deinen Brief antworte. Anderes Beispiel: Gerade aß ich eine vegetarische Bio-Pizza zu Mittag und kann nur sagen: Ab in die Tonne mit dem Zeug. Kurzum: Vernunft ist schwer zu erlernen. Zum zweiten ist das aber auch eine Frage des Ansatzpunktes: Was läuft eigentlich falsch? Wenn ich die verschiedenen Kandidaten in meinem Leben durchgehe, komme ich eigentlich immer wieder zu der Feststellung: alles super. Und trotzdem hängen da draußen diese kölnfratzigen Schweinebazillen herum, die nur auf eine kurze Schwäche lauern, um zuzuschlagen, weswegen ich jetzt wieder Antibiotika kaue. Ich hasse das, aber da alles andere nicht mehr half, ist es trotzdem wieder so weit.
Vielleicht sollte ich eine Management Consultancy beauftragen, mein Leben zu analysieren und mir auf Power Point meine fünf Top-Schwächen herauszuarbeiten. Ich weiß aber im vorhinein, daß das nicht funktionieren wird. Ich hatte mal an der Universität einen Professor für Entscheidungstheorie, der sich gerne in komplizierten Bewertungsmodellen erging und dabei erwähnte, daß er diese für alle Lebensbereiche zuträglich fände. Wir haben ihn dann gefragt, ob er auch im privaten Bereich wichtige Entscheidungen auf eine solche Grundlage stellen würde. Erst sagte er „ja“, dann fiel ihm ein, daß er zuletzt bei einer Karriereentscheidung mehrere Alternativen zur Wahl hatte, sein Lieblingsmodell anwandte und eine bestimmte Alternative klar auf Platz eins landete. Die hat er dann verworfen und etwas anderes gemacht. Als er sich selber so hörte, guckte er erst etwas quer, um dann zu sagen, das mache ja nichts, es sei ja noch immer seine eigene Entscheidung gewesen. Siehst Du, lieber Martin, so ist das auch mit Königs und den Beratern: Jeder sagt, er braucht welche, doch bekäme er noch welche dazu, würde er trotzdem nicht auf sie hören. Richtig so: Der Feldherr führt von der Spitze und trägt dafür allein die Verantwortung (nur muß er dann auch mit den Konsequenzen leben).
Wie komme ich jetzt auf das Ruhrgebiet, nach dem Du mich in Deinem Brief gefragt hast? Schwierig. Gibt es im Ruhrgebiet Universitäten? Ich glaube nicht. In Bochum bestimmt nicht, davon hätte ich gehört (ich fordere an dieser Stelle offenkundig auf, Leserbriefe zu schreiben und mir zu widersprechen; fünf Seitenwechsel am Stück ohne Leserbriefe, das geht nicht). Bochum ist mir übrigens, ich gebe es gerne zu, zutiefst zuwider, obwohl (oder vielleicht weil) ich dort noch nie war. Das liegt an Peter Neururer, der es mal geschafft hat, das Tier in mir herauszulocken. Ich erinnere mich an eines dieser Schweinespiele in Gladbach, das mal wieder 2:2 ausging, da sah ich mich (als ich wieder klar denken konnte) mit stierem Blick und hochrotem Kopf, zwei Fäuste erhoben und wirre Drohungen äußernd, auf einem Zaun hängen, nur weil Neururer daran vorbeiging. Und wie denke ich heute, mit jahrelangem Abstand, als kultivierter Mansch darüber? Ich denke: Richtig so! Und deswegen sage ich, lieber Martin, mit Blick auf morgen: Scheißegal, wer auf der Bank sitzt oder auf dem Rasen steht, denen geben wir (sportlich, nicht wörtlich) aufs Maul. In bester Klinsmann-Motivationsmanier (aber ohne Buddhas) wie bei der letzten WM vor dem Polen-Spiel: Das sind Ruhrpottpolen, von so etwas lassen wir uns doch nicht besiegen! Und das ist auch der Grund, warum ich auch diese Woche noch nicht poltere: Wenn Borussia morgen in Bochum gewinnt, ist meine kleine Welt wieder in Ordnung. So einfach ist das.
Es grüßt mit zuversichtlicher Sorge im Herzen und Bazillen im Hirn
Dein Joachim
Donnerstag, 16. Oktober 2008
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
1 Kommentar:
Das ist aber schon ein wenig peinlich. Immerhin hat Bochums Uni eine bekanntermaßen hohe Selbstmordrate...
Kommentar veröffentlichen