So lange schon so hohes Niveau - das ist bemerkenswert: Schon 62 Brand-, Schmäh- oder Liebesbriefe haben wir uns mit den lieben Kollegen von Seitenwahl geschrieben; heute folgt der nächste. Und wir gehorchen Oliver Reck, wenn er fordert: Weiter machen, immer weiter! Unser altes Swingerclub-Motto gilt dabei nach wie vor: Alles kann, nichts muss. Martin fürchtet sich diesmal vor dem nächsten Diktator aus Österreich und bekennt sich zum christlichen Fundamentalismus - das alles bei Seitenwahl. Joachim litt kurzzeitig unter Wurmbefall, ist jetzt aber wieder gesund - und antwortet:
Lieber Martin,
zunächst danke für die Nachfrage, ich bin wieder und noch gesund. Derzeit wechselt das wöchentlich, daher liegt die Betonung auf „wieder“ und „noch“. Der Trend zeigt freilich nach unten, was ich auf eine Kombination von Wetter, Arbeit und Tabellenplatz zurückführe (Ist es in dieser Lage ein Trost, daß sich der Tabellenplatz nicht mehr verschlimmern kann, zumindest bis nächsten Sommer?). Eines aber unterscheidet unser beider Stimmung derzeit: Während Du eher depressiv wirkst, fühle ich mich latent aggressiv. Kennst Du auch dieses Gefühl, diesen Schnupfnasen an den Kragen zu wollen, die morgens im Zug Dir gegenüber Platz nehmen, nur um Dich eine Stunde lang anzuröcheln, anzuniesen und anzuschnaufen? Wie steht es mit Petrus, der es immer dann regnen läßt, wenn ich meinen Schirm vergessen habe oder Du Fahrrad fahren willst? Und – wie steigern das Elend – was ist mit Kölnern, die wissen, daß ihr Verein selbst bei der obligatorischen Derby-Niederlage noch vor Borussia stehen wird und die daher ihre nichtswürdige Existenz durch den Verweis auf die Tabelle aufwerten wollen, nur weil der Fußballgott gerade den Perversling mimt? Weichet, ihr Wichte und Würmer! Es ist wirklich schwer, nobel und tolerant zu sein, wenn sich von allen Seiten das Übel an Dich heranrobbt.
Doch genug der schlechten Dinge, kein Verweis auf Finanzkrise, Palin und CSU. Warum muß man sich noch depressiver machen, als man ohnehin schon ist? Daher komme ich zu Österreich, auch ein Thema von Dir, wenngleich ich es aus einer anderen Perspektive betrachte. Ich war nämlich den Großteil der letzten Woche in Graz, wo ich dienstlich zu tun hatte, und erlebte somit den Wahlkampf hautnah mit. Ich sah auf den Straßen mehr Wahlplakate als Hundeköddel, und wenn ich mir die Anzahl der Wahlstände betrachte, komme ich zur Vermutung, daß es erstmals in der Geschichte mehr Politiker als Wähler gibt. Vor allem aber sah ich Fußball, so das Spiel zwischen Kapfenberg und Kärnten oder, alternativ, zwischen Milan Fukal und Chiquinho. Was war das für eine Freude, den guten alten Chiquinho als besten Mann auf dem Platz wirbeln zu sehen, zentral im Mittelfeld das Spiel lenkend, mit technisch feinem One-Touch-Fußball die Bälle verteilend und intelligent alle Standards variierend! Nun ja, seine halbe Mannschaft besteht aus Brasilianern, da macht ihm wohl das Kicken Spaß. Übrigens heißt einer dieser Kameraden vom Zuckerhut mit bürgerlichem Namen Maier, läuft aber unter dem Künstlernamen Schumacher auf. Das finde ich mal originell, zumindest wenn er den Toni meint und nicht den Michael. Stell Dir vor, Du hießest Daum und nenntest Dich Luhukay... Er schoß sogar ein Tor, was freilich nicht schwer war, denn Milan Fukal war sein altes Selbst: Beweglich wie ein Panzerschrank. Kärnten gewann 2:0, und Chiquinho träumt nun vom UEFA-Cup (oder der Europa League, wie das dann - in dieser Pisa-untauglichen Schreibweise - heißt).
Reisen bildet ja bekanntlich, so kam ich mit mancher Anregung zurück. Mit Bezug auf Borussia blieb mir vor allem mein Besuch des Zweitligaspiels zwischen Gratkorn und Leoben in Erinnerung. Gratkorn läßt sich von einem Bestattungsunternehmen namens PAX sponsern und heißt daher derzeit (wie in Österreich mit Vereins- und Sponsornamen üblich) FC PAX Gratkorn. Was eröffnet das doch für Möglichkeiten, sowohl für die Trikots als auch den Stadionnamen, zumal Kyocera ja als Hauptsponsor ausscheidet. Einheimische Bestatter, aufgepaßt: „Ruhe sanft Borussia Mönchengladbach“ trägt seine Heimspiele in der Borussia-Gruft aus, das paßt doch wie der Deckel auf die Urne. Sollte es freilich eine Nummer kleiner sein, könnte man auch die Namensrechte an einzelnen Mannschaftsteilen verkaufen: Produzenten von Schlafmitteln wenden sich der Abwehr zu, „Such und Find“ gibt dem Mittelfeld den Namen, und der letzte Mohikaner ziert die Brust des einzig verbliebenen Stürmers in der Startelf. Zu guter Letzt sponsert noch eine Zeitarbeitsfirma den Trainerstuhl. Mirko Slomka, diesen Namen wirfst Du in den Raum? Nein, wenn Du wirklich das Gruselkabinett öffnen willst, kann ich Dir mit ganz anderen Namen kommen: Dick Advocaat kommt auf den Markt! Berti Vogts schmeißt bald hin! Klinsmann hat die Faxen dicke! Und was – mein Favorit aller Zeiten – ist mit Horst Ehrmantraut?
Überhaupt Borussia – sind drei Foulelfmeter gegen die eigene Mannschaft in einem einzigen Pflichtspiel nicht Vereinsrekord? Ich mußte ja leider das Pokalspiel gegen Cottbus im Videotext verfolgen, weil ich wie gesagt in Graz war, doch nach dem 2:0 bin ich erst mal hinter meinen Hotelfernseher gekrochen und habe nachgeguckt, ob da nicht ein kleiner Ösi sitzt, Knoten ins Kabel macht und sich auf meine Kosten amüsiert. Foulelfmeter – 1:0, Foulelfmeter – 2:0, Foulelfmeter – 3:0, ich war schon drauf und dran, mich so richtig aufzuregen, weil ich dachte, der Schiri gibt den Steinborn. Dann sah ich die Zusammenfassung und mußte konstatieren, daß die Mannschaft tatsächlich so unbedarft ist. Nicht, daß ich das Spiel weiter bewerten will, das geht aufgrund der Kurzzusammenfassung nicht. Wenn Du aber gerade in Hannover zwei Elfer bekommen hast und dann so agierst, mußt Du einen an der Waffel haben. Das Schlimmste war freilich hinterher der Trainer, als er mal wieder sagte, nun könne man sich auf die Bundesliga konzentrieren. Ja hallo, wohnt da jemand hinter dem Schnurrbart? Sind die Herren plötzlich überfordert, weil sie pro Jahr statt 34 Pflichtspielen ein oder zwei mehr haben? Was sollen dann international aktive Mannschaften sagen, die locker auf fünfzig, sechzig Partien kommen?
Ich höre an dieser Stelle besser auf; wie Du merkst, bin ich tatsächlich latent aggressiv. Ich brauche jetzt drei Punkte gegen Köln, dann bin ich wenigstens kurzzeitig sediert. Und wenn ich dann nicht krank werde, könnte ich nächste Woche eventuell gute Laune haben. Das kannst Du gerne als Drohung auffassen…
Einen schokoladigen Gruß aus Belgien, wo wir den Weltuntergang nicht vor Dezember 2012 erwarten, sendet Dir
Dein Joachim
Donnerstag, 2. Oktober 2008
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