Freitag, 4. Januar 2008

der sporadische adventskalender: türchen 27

Ab dem 1. Februar rollt der Ball wieder. Bis dahin sind es noch 27 Tage. Nicht jeden Tag, aber doch immer wieder, wollen wir in dieser herzlosen Zeit sporadisch ein virtuelles Türchen öffnen und einen schmackhaften Leckerli zur Einstimmung auf die Rückrunde präsentieren. Wie bei jedem Adventskalender weiß man vorher nicht, was drin ist. Ein Zitat? Ein langer Text? Ein Bild gar? Heute: Ein Liebes- und Lebensroman, der mit Beckers erstem Wimbledonsieg beginnt und viel Kluges auch zum Thema Sport und Leidenschaft zu sagen hat.

Es ist die Schizophrenie oder das dialektische Spiel zwischen der Tatsache, dass man weit über diesen Zustand hinausgewachsen ist, in dem der Sport ernst oder heilig war wie die Religion für Kinder, dass man desillusioniert längst vom Jugendtraum Abschied genommen hat, selbst ein umjubelter Sportler werden zu können, dass man die Beliebigkeit, das Lächerliche, auch das Widerliche des Sport-Business längst durchschaut, und der Melancholie über dieses Wissen, der man sich mit Erwachsenenkraft und Männerstarrsinn ein paar köstliche Momente lang erwehrt. So ist eine Sportübertragung heute immer ein je nach Charakter mit Zynismus, Sarkasmus, Selbstironie oder sentimentaler Naivität betretenes Kinderreservat, als brächen erwachsene Männer abends heimlich auf dem Spielplatz ihrer Jugendtage ein und riefen einander inmitten der schaukelnden und rutschenden Nostalgieseligkeit Zoten und Gemeinheiten zu. Es ist ganz ernst gemeint und zugleich ganz unernst, aber dass es eben beides ist, versteht nicht, wer nicht als Kind in diesem Glauben aufgewachsen ist.
Aber genau wie wirkliche Religiosität ist es zugleich mehr als das, nämlich Sehnsucht und Erfurcht. Ehrfurcht vor der epischen Größe des Zweikampfs, seiner Reinheit und Ehrlichkeit, seiner zivilisierenden Kraft und zugleich seiner mythischen Schicksalsverwobenheit. Die Liebe zu einer Kunstgattung oder Kulturpraxis, an deren Möglichkeiten und Berechtigung man tief innerlich nicht mehr glaubt, bringt die Parodie hervor, und so ist das Verhältnis zum Sport eigentlich ein parodistisches. Seit der Kindheit haben sowohl Liebe als auch Unglaube große Fortschritte gemacht - und beide zusammen ergeben die Leidenschaft.

Aus: Michael Kleeberg, Karlmann, Deutsche Verlagsanstalt, 2007.

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