Auf schillernde Juwelen kann man von vielen Seiten blicken und staunen. Seit 1997 bereits beobachtet Seitenwahl für seine Leser das Gladbacher Geschehen, 2004 gesellte sich der VfLog dazu. Beide Projekte haben ihren eigenen unverwechselbaren Charme. Seit Beginn der Saison 06/07 gibt es nun den SEITENwechsel: Seitenwahl und VfLog haben einen Briefwechsel begonnen, in dem alles möglich ist: Fachsimpelei, Verbalfouls, Streit und Harmonie. Solange die Tinte reicht, wird auf Seitenwahl und auf dem VfLog immer dienstags der Brief der jeweils anderen Seite veröffentlicht.
Unten der zehnte Seitenwechsel. Diesmal hat zuerst Maik an Mike geschrieben, den Brief findet ihr bei Seitenwahl. Unten Mikes Antwort.
Lieber Maik,
melancholisch werde ich, wenn ich Deine Geschichte von Amateurplätzen, Bratwurstgeruch und philosophischen Gesprächen von in drei Generationen anwesenden Fans lese. Ich erwähnte bereits, dass Goethe der meistzitierte Dichter im Sportjournalismus sei. Und womit? Mit Recht, will ich meinen.
Fiel nicht auch Dir folgendes ein, als Du an der Bremer Brücke warst: "Ich höre schon des Dorfs Getümmel,/ Hier ist des Volkes wahrer Himmel,/ Zufrieden jauchzet groß und klein,/ hier bin ich Mensch, hier darf ich's sein!"?
Die Bezeichnung "wahrer Fußball" hat durchaus etwas Charmantes. Ist es nicht immer so, dass man sich nach Vertrautem, nach Bewährtem sehnt, wenn Dinge sich schneller entwickeln, als man es je gewünscht hat? Jede Entwicklung verursacht auch meist eine Wiederauferstehung längst vergessenen geglaubter
Dinge: Wir schwärmen von alten Autos, voll mit Chrom, großen Lenkrädern, ohne Kopfstützen und betörender Schönheit, während wir im vollklimatisierten, aerodynamischen und mit Airbags vollgestopften 08/15-Autos durch den Verkehrssumpf fahren; wir legen mit einem zufriedenen Lächeln alte Vinyl-Platten von Queen, Barclay James Harvest oder Bob Dylan auf, während im TV die üblichen Popsternchen rumhüpfen; und wir fühlen uns eben wohl, wenn wir, Bratwurst essend und Bier trinkend, auf einem kleinen Rasenhügel hocken und ein Kreisliga-B-Spiel des heimatlichen Dorfvereins schauen, während wir am Tag vorher inmitten von 50.000 pfeifenden und gröhlenden Modefans sitzen (oder stehen), dabei wahlweise von Deckenstrahlern beheizt werden, während wir am Arbeitsplatz mit WLAN-Anbindung einen Spielbericht in den Laptop hacken. Solche Erfahrungen, wie Du sie an der Bremer Brücke machst und ich heute Abend bei einem Meisterschaftsspiel einer Betriebssportgemeinschaft mache, erden, holen einen zurück.
Natürlich weiß Jupp Heynckes, wie es geht. Er bat heute Präsident Königs um Geduld, doch diese ist in Möchengladbacher noch seltener anzutreffen als Fans, die sich an Auswärtssiege erinnern können. Das große Ganze sieht keiner, will keiner sehen. Ich habe mit fast jedem Arbeitskollegen gewettet, der es wollte oder auch nicht wollte: Borussia wird in spätestens fünf Jahren in der Champions League spielen. Alle Voraussetzungen stimmen. Das Stadion, das Umfeld, die Jugendarbeit, die Sponsoren, die (Anzahl der) Fans, alles. Es wird Früchte tragen, da bin ich ganz sicher. Wird man Geduld haben? Bei einem etwaigen Platz 12 am Ende dieser Saison? Einen ersten Vorgeschmack auf das, was dann kommen könnte, konnte man bereits nach dem Spiel in Aachen erleben. Die blinde und krankhafte Hetzjagd nach Schlagzeilen und Stimmungen widert mich an, und man muss kein Prophet sein, um zu erahnen, welche Schlagzeilen folgen werden, sofern der (vorausgesetzte) Erfolg ausbleibt.
Objektivität und Fußball sind zwei kaum in Einklang zu bringende Dinge.
Damals, als in den 80ern bei manchen Heimspielen im Schnitt 15.000 Zuschauer zum Bökelberg kamen, wurden auch Fehler gemacht, Spiele verloren, Grottenkicks geboten und Fehleinkäufe getätigt. Doch damals pfiff man im Stadion, schluckte seine Wut mit ein paar Bechern Bier hinunter und ging nach Hause. Heute beginnt dann erst das eigentliche Spektakel. Internet, Flatrates und DSL sei Dank, tauchen Stimmen auf, die man früher nie gehört hätte. Über die Presse werden Geschichten und Schlagzeilen forciert, die durch vermeintliches Insiderwissen auf der einen Seite, eigenem Beobachten auf der anderen Seite zu Tatsachen werden. Auf einmal will jeder wissen, welches Verhältnis der Sportdirektor zu Spieler X hat und dass Spieler Y sowieso schon einen neuen Verein sucht. Ein anderer sieht sich am zweiten Spieltag bestätigt, dass sich "gar nix geändert" habe und dass er das "sowieso schon wusste", als er die "Flaschen" gesehen hat, die der "blinde Manager" im Sommer verpflichtet hat.
Sofern ich nicht selber im Stadion bin, um den Spielbericht zu verfassen, meide ich seit Beginn dieser Saison sämtliche Foren oder Presseberichte der ersten Tage. Oder ich gehe zum Sportplatz um die Ecke, esse eine Bratwurst und sitze auf Grashügeln. Das öffnet den Blick für das Wesentliche und erdet, garantiert!
Beste Grüße
Mike
Dienstag, 10. Oktober 2006
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