Donnerstag, 9. November 2006

punktgewinn am millerntor

Bis zur 62. Minute war die 2:1-Führung von St. Pauli einfach unerklärlich. Sie war ohne Frage unverdient. Mit der 62. Minute, mit dem Ausgleich zum 2:2 hatte der VfL einen Punkt gewonnen, der mit Blick auf den Spielverlauf noch zu wenig war. Nach 90 Minuten hatten sich St. Pauli und Osnabrück die Punkte geteilt, und das war am Ende, nachdem Osnabrück in der letzten halben Stunde das Offensivspiel größtenteils eingestellt hatte, angemessen.

Beide Trainer hatten sich, wie gewohnt, für ein 4-4-2-System entschieden, doch in den ersten Minuten spielte St. Pauli so furios Forechecking, dass der VfL Mühe hatte, sein System zu finden. Er schaffte es, fand sichtlich besser ins Spiel, baute das Spiel klug auf. Das Führungstor in der 11. Minute, das für viele Beobachter aus mehr oder weniger heiterem Himmel fiel, fiel so plötzlich gar nicht: Osnabrück hatte den Gegner schon zu diesem Zeitpunkt immer besser in den Griff bekommen. Plötzlich kam lediglich der haarsträubende Fehler von St. Paulis Rechtsverteidiger Florian Lechner, dessen Querschläger direkt auf Jan Schandas Kopf zielte. Der lauerte am langen Pfosten und markierte mühelos die 1:0-Führung für Osnabrück.

Was dann eine knappe Stunde folgte, war – mit zwei folgenschweren Abstrichen – eine Vorführung. Selten hat man in den vergangenen Jahren eine so sicher agierende VfL-Mannschaft gesehen. Defensiv mit einer atemberaubenden Souveränität, im Spielaufbau und in der Offensive durchdacht und vor allem: schnell. Es war eine Freude, dabei zuzusehen. St. Pauli war in dieser langen Phase des Spiels harmlos. Lediglich ein Meggle-Schuss in der 17. Minute sprang für die Hamburger raus, nicht besonders gefährlich; und eine erfolglose Abseitsfalle brachte die Kiez-Kicker einige Minuten später noch einmal vor das Tor von Frederik Gößling.
Dem standen lila-weiße Kombinationen gegenüber, die auswiesen, dass Osnabrück zurecht oben in der Tabelle steht. Oft waren es Thomas Cichon und Marco Tredup, bei denen die Spielzüge begannen, Mathias Surmann verdiente sich als Ballverteiler einige Meriten, vorn war Thomas Reichenberger, seltener – oder eher: glückloser – Addy Menga, stets anspielbar und agil. Und was einige Zeilen zu beschreiben dauert, das ging auf dem Platz blitzschnell. In der 20. Minute konnte Addy Menga, nach einem Doppelpass von Surmann und Schanda angespielt, einen schönen Angriff nur harmlos abschließen. In der 27. Minute folgte eine tolle Freistoß-Kombination: Cichon spielt flach und steil auf Jo Enochs, der sofort weiter nach links auf Bilal Aziz, schnelle Flanke auf den mutterseelenallein vor St. Pauli-Torwart Patrik Borger wartenden Reichenberger. Kein Tor, kein 2:0. Der VfL machte nach vorn das Spiel, und hinten verstanden sich Dominique Ndjeng und Cichon blind.

St. Pauli stand unter Druck: Viele Stockfehler, leichte Fehlpässe. Schon nach gut 20 Minuten verließ mein Sitznachbar das Stadion und grüßte mit: „Tschüss. Ich will das Elend nicht mehr mit ansehen!“ St. Pauli hatte das Zepter abgegeben. Dann, nach einer halben Stunde, schoss Marvin Braun in zwei Minuten zwei Tore, und die Hamburger führten 2:1. Verkehrte Welt. Beim ersten Tor kann man so richtig gar niemandem einen Vorwurf machen; es war das Produkt eines abgefälschten Schusses und vieler Zufälle, die den Ball zu Braun brachten. Der tat, was er konnte, und 17.000 Zuschauer waren ein Tollhaus. Die Osnabrücker fanden das offenbar so toll, dass sie ein paar Sekunden zu lange nicht an Fußball dachten. Braun war wieder schneller, und die beiden einzigen ‚Fehler’ der Osnabrücker Innenverteidigung hatten den Spielverlauf auf den Kopf gestellt. Noch vor der Pause fing sich die Mannschaft von Pele Wollitz wieder. Nach feinem Zusammenspiel von Surmann und Reichenberger hatte Menga gar in der 40. Minute noch den Ausgleich auf dem Fuß, vergab jedoch. Halbzeit. Was einer Mannschaft sagen, die eigentlich nichts falsch gemacht hatte?

Dann kam die 62. Minute. Lila-Weiß jubelte über den hochverdienten Ausgleich, der sich abgezeichnet hatte. Besonders Bilal Aziz hatte sich, je länger das Spiel dauerte desto mehr, dafür ins Zeug gelegt und kurz zuvor Schanda vielversprechend in Szene gesetzt. Nun traf nicht Schanda zum zweiten Mal, sondern Reichenberger. Der Ausgleich saß, die St. Pauli-Fans waren enttäuscht, und Schuld sollte jetzt der Schiedsrichter haben. Dass Christian Schössling ein guter und mutiger Referee war, der – endlich einmal! – selten das Spiel unterbrach und viel weiterlaufen ließ, brachte ihm "Hoyzer, Hoyzer"-Rufe ein. Das war ungerecht. Doch auch wenige lila-weiße Fans vermochten mit Dämlichkeit zu überzeugen und zündeten Nebelkerzen. Beides trübt nicht die Sympathie, die die große Mehrheit der St. Pauli- und Osnabrück-Fans füreineinder hegen.

In den letzten 25 Minuten stellte der VfL seine Offensiv-Bemühungen zum großen Teil ein. "Das finde ich dann immer nicht so gut", sagte Claus-Dieter Wollitz nachher. "Meine Philosophie ist, dann trotzdem weiter nach vorn zu spielen, selbst wenn du das 2:3 kriegst. Doch ich akzeptiere auch, wenn sich die Mannschaft auf dem Platz selbstständig entscheidet: ‚Jetzt spielen wir 2:2.’ Das muss sie dürfen." St. Pauli nahm das zur Kenntnis und drückte, versuchte sich in Powerplay, allein die lila-weiße Defensive war an diesem Abend kein drittes Mal zu überwinden. Sie stand unaufgeregt sicher und klärte eben, was es zu klären galt. In Situationen, die einen im Pokalspiel gegen Mönchengladbach noch zittern ließen, weil man dem Abwehrspiel nicht trauen wollte, war gestern nicht einen Moment lang Angst geboten, das Spiel doch noch verlieren zu können. Dennoch: "Die Mannschaft ist deprimiert, die war schon in der Halbzeit deprimiert. Dabei muss sie das gar nicht. Sie hat alles gegeben, tollen Fußball gespielt", sagte Pele Wollitz anschließend – und freute sich doch auch etwas über den Ehrgeiz der Truppe.
St. Pauli-Coach Andreas Bergmann nannte das Ergebnis "gerecht", auch Wollitz fand, dass die Punkteteilung "unterm Strich ok" war. "Wir sind auf einem sehr guten Weg, und in der Mannschaft passt im Moment einfach alles." Das merkt man.

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