Mittwoch, 8. Oktober 2008

seitenwechsel #64

So lange schon so hohes Niveau - das ist bemerkenswert: Schon 63 Brand-, Schmäh- oder Liebesbriefe haben wir uns mit den lieben Kollegen von Seitenwahl geschrieben; heute folgt der nächste. Und wir gehorchen Josef Hader, der stets betont "es muss weidagehn!" Unser altes Swingerclub-Motto gilt dabei nach wie vor: Alles kann, nichts muss. Joachim zeigt sich trotz aller Turbulenzen in Gladbach gelassen – und lehrt Martin damit erst recht das fürchten, wie man bei den Kollegen von Seitenwahl lesen kann.

Lieber Martin,

wußtest Du, daß das fortgeschrittene Alter Vorzüge hat? Nein, ich rede hier nicht von Rückenschmerzen, Haarausfall und na Du weißt schon. Ich rede auch nicht von wirklichen Vorzügen wie dem guten Gefühl, niemandem mehr etwas beweisen zu müssen, keine Prüfungen mehr absolvieren und keinen Job mehr finden zu sollen. Ich rede vielmehr – Du ahnst es – von Borussia. Ich habe inzwischen so viele Trainerwechsel erlebt, daß sich das Gefühl einstellt, alles schon einmal erlebt zu haben (natürlich täuscht das: schlimmer geht immer). Gut, daß es Wikipedia gibt, denn ich verliere allmählich den Überblick. Fünfzehn Trainer in zwanzig Jahren, und alle wurden gefeuert oder mußten freiwillig gehen, da darf man auch als fachkundiger Betrachter schon einmal nachlesen, wer da wann und wem den Schleudersitz geräumt hat. Der letzte Trainer, der tatsächlich am Tag seines ursprünglich geplanten Vertragsendes (einem 30. Juni) seinen Ausstand gab, war Jupp Heynckes – 1987, wohlgemerkt, nicht 2001. Das war einen Monat, nachdem Mathias Rust sein Flugzeug auf dem Roten Platz in Moskau geparkt hatte, und einen Monat, bevor mit Erich Honecker erstmals ein Staatschef der DDR die Bundesrepublik besuchte. Sechs Tage vorher wurde übrigens Lionel Messi geboren. Was der und seine Altersgenossen wohl denken, wenn man sie heute nach Borussia Mönchengladbach fragt?

Und trotzdem, lassen wir die Kirche im Dorf. Selten hat es einen vorzeitigen Trainerabgang gegeben, mit dem ich ähnlich einverstanden war wie mit diesem. Die Begründung ist nachvollziehbar, der Zeitpunkt genau richtig, die Abwicklung skandalfrei. Jos Luhukay erscheint mir als jemand, der ein guter Zweitligatrainer ist, der aber aus Gründen, die vermutlich in ihm selbst zu suchen sind und mit einer latenten Unsicherheit, die bei ihm im längeren Gespräch stets erkennbar wurde, zu tun haben mögen, auf dem Trainerstuhl eines Erstligisten unsicher wirkt und unsicher agiert. Sein fehlendes Aufbäumen gegen den Abstieg vor anderthalb Jahren hängt ihm nach, und mancher seiner Vorgänger mußte für weniger seinen Stuhl räumen. Dennoch war es richtig, ihn zu behalten, denn er stieg prompt wieder auf und bewältigte dabei immerhin zwei Minikrisen (mehr aber auch nicht). Nachdem sich nun jedoch erneut abzeichnet, daß er im Fußballoberhaus laviert statt agiert – eine Entwicklung, die sich bereits in der Vorbereitung deutlich abgezeichnet hatte, als er sich beharrlich weigerte, eine Stammelf aufzubauen – mußte man die Reißleine ziehen. Mit mangelnder Kontinuität hat das diesmal nichts zu tun. Richtig verstandene Kontinuität war, ihm die Mannschaftsleitung nach dem Abstieg zuzugestehen, doch jetzt auf das Prinzip Hoffnung setzen wäre schlicht falsch verstandene Kontinuität.

Lieber Martin, es mag auch mit den von uns letzte Woche diskutierten Herbstdepressionen zu tun haben, daß der ein oder andere nun Gespenster herumspuken sieht. Effenberg, Matthäus oder Neururer, man muß schon BILD-Redakteur sein, um an solche Namen zu denken. Genauso verfehlt wie der Griff in die untere Schublade wäre freilich auch das Wiederaufwärmen alter Kamellen. Damit meine ich weniger die mehrere Dutzend Namen umfassende Liste von Ex-Borussen als Hans Meyer, der zuletzt den 1. FC Nürnberg gegen den Baum gefahren hat, da hilft auch kein Pokalsieg. Es gibt durchaus solide Kandidaten, die über mindestens ein Jahrzehnt national und/oder international mehrere Erstligisten mit einigem Erfolg geführt hatten, und in diesen Kategorien wird Christian Ziege hoffentlich denken. Mir ist da jedenfalls nicht bange, bis zum Beweis des Gegenteils. Um nochmals auf die Vorteile des Alters zurückzukommen: Einen größeren Schock als weiland die Verpflichtung von Hannes Bongartz wird man mir auf meine alten Tage hoffentlich nicht zumuten. Die Katsche, die eine spontan geschleuderte Bierflasche an der Wand hinterlassen hat, ziert heute noch ein ansonsten ansehnliches Wohnzimmer.

Trösten wir uns also damit, daß die Zeit des erfolgreichen Krisenmanagements angebrochen ist. Angela Merkel sichert meine Spargroschen, damit ich weiter in den Borussia-Park fahren kann, wo Rolf Königs mir die Erstklassigkeit Borussias erhält. Ein idyllisches Bild! Ja, ist denn schon Weihnachten? Nicht ganz, und was der eine mit altersmilde umschreibt, nennt der andere senil. Was soll’s, schimpfen kann ich immer noch nächste Woche, an gleicher Stelle, und das werde ich auch tun, wenn es sein muß. Vorher aber überlasse ich die Hysterie den Hysterikern und empfehle nach wie vor Kamillentee, in allen Lebenslagen.

Friede, Freude, Eierkuchen wünscht Dir

Dein Joachim

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