Dienstag, 20. Februar 2007

seitenwechsel #22

Auf schillernde Juwelen kann man von vielen Seiten blicken und staunen. Seit 1997 bereits beobachtet Seitenwahl für seine Leser das Gladbacher Geschehen, 2004 gesellte sich der VfLog dazu. Beide Projekte haben ihren eigenen unverwechselbaren Charme. Seit Beginn der Saison 06/07 gibt es nun den SEITENwechsel: Seitenwahl und VfLog haben einen Briefwechsel begonnen, in dem alles möglich ist: Fachsimpelei, Verbalfouls, Streit und Harmonie. Solange die Tinte reicht, wird auf Seitenwahl und auf dem VfLog der Brief der jeweils anderen Seite veröffentlicht.

Den zweiundzwanzigsten Seitenwechsel beginnt diesmal Maik. Seine Vorlage lest Ihr bei Seitenwahl. Hier nun folgt Mikes Antwort.


Lieber Maik,

ich habe das karnevalistische Wochenende mit meiner Partnerin und Freunden an der belgischen Nordseeküste verbracht. Mit dicken Jacken bekleidet und den Kragen hochgestellt, sind wir stundenlang am Strand spaziert, haben schweigend die Landschaft, das Rauschen der Wellen und die Luft genossen. So etwas erdet und beruhigt ungemein. Vielleicht ist es purer Zufall, dass mich auf einem dieser beruhigenden Spaziergänge am Samstag eine SMS erreichte, in der mir ein Bekannter die Ergebnisse und Tabellenstände der Bundesliga mitteilte. Dass ich dies mit einer gewissen Gleichgültigkeit vernahm, wird Dich ebenso wenig überraschen wie es meine Freundin überraschte, als sie sah, wie ich auf das Display meines Handys starrte. Ich las das dort Geschriebene, steckte mein Handy wieder ein, schlug meinen Kragen hoch und
ging weiter.

Streng genommen müsste ich in diesen Zeilen schweigen, denn ich habe keine einzige Sekunde dieses Spiels gesehen, das Borussia endlich auf den verdienten letzten Tabellenplatz beförderte. Aber, und das ist das Grausame daran, würde mir weder eine 90minütige Aufzeichnung noch ein vernünftiger Zusammenschnitt irgendwas Neues offenbaren? Mir reicht die Lektüre weniger
Spielberichte, um zu ahnen, was sich am Samstag in Dortmund abgespielt haben muss. Und ich stimme Dir zu: Schweift der Blick auf die anderen Mannschaften, die gegen den Abstieg kämpfen, ist man fast geneigt, sich eine Regeländerung zu wünschen. Ich wünsche mir nur einen Absteiger: Borussia! Es wäre angesichts der Auftritte von Bochum, Aachen, Mainz oder Cottbus fast peinlich, wenn diesen Mannschaften am Ende das gleiche Schicksal wiederfahren würde wie Borussia. Man stellt sich einen Schützengraben vor, in dem mehrere Soldaten stehen und um ihr Leben kämpfen, auch wenn sie wissen, dass es nicht alle schaffen werden. Nur ein einziger Soldat sitzt regungslos in diesem Graben; die Waffe, die ihn retten könnte, schon weit von sich gelegt, leblos ins Leere blickend und einzig auf das unwiderbringliche Ende wartend. Borussia 06/07 ist ein Patient im Wachkoma, und die Maschine, die ihn am Leben hält, wird spätestens am 34. Spieltag abgeschaltet werden.

Ich erinnere mich an die Abstiegssaison 98/99, als Borussia mit einem 5:2 am 28. Spieltag den Tabellenfünften VfL Wolfsburg besiegte und sich somit zumindest im Ansatz für das 1:7 im Hinspiel revanchieren konnte. Selbst nach diesem Spiel waren es noch neun Punkte Rückstand auf das rettende Ufer, aber es war ein Lebenszeichen dieser Mannschaft. Am Ende hatte man zwar nur 21 Punkte erspielen können und war zurecht abgestiegen, aber bei 79 Gegentoren konnten 41 Tore erzielt werden. Die heutige Borussia müsste demnach in den verbleibenden 12 Spielen noch 25 Tore schießen, um dieses Ergebnis zumindest einstellen zu können. Wie weit wir selbst von damaligen Zuständen entfernt sind, offenbart sich in einer Frage: Glaubt man als Borusse daran, noch in der laufenden Saison ein Spiel mit 5:2 gewinnen zu können? Der Abstieg war eine Katastrophe zum damaligen Zeitpunkt, doch war er rückblickend wohltuend für die Entwicklung. Der berühmte Selbstreinigungseffekt trat ein, den sich heute immer mehr Fans ebenso wünschen. Dass das nicht immer gelingt, sieht man in Köln, wo man ebenso mit seelenlosen Fußball und nach vier Abstiegen die Fans nun in der zweiten Liga quält. Ich gebe zu, dass ich, so sehr ich einen Abstieg zur Selbstreinigung akzeptieren würde, auch ein bißchen Angst habe. Was, wenn Borussia nicht mehr aufsteigt? Was, wenn wir selbst in der zweiten Liga eine graue Maus werden? Wenn wir gar ein Schicksal wie die Düsseldorfer Fortuna erleben, die bis in die Oberliga abstürzte? Ich denke, dass ich noch einige Spaziergänge am Strand brauchen werde, um auf diese Fragen für mich beruhigende Antworten finden zu können.

Es grüßt nachdenklich
Mike

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